Federflüstern

Federflüstern

Nach ihrem aufregenden Besuch in der fernen Zukunft in “Blätterrauschen” sind Oliver, Iris und Rosa wieder sicher in unserer Zeit angekommen – oder vielleicht doch nicht? Irgendwie scheint alles ein wenig anders zu sein.

     

Doch ehe die Kinder herausfinden können, was nicht stimmt, erwartet sie schon wieder ein neues, gefährliches Abenteuer: Aus Versehen geraten sie gemeinsam mit dem geheimnisvollen Mädchen Lucia 125 Jahre zurück in die Vergangenheit – ins winterkalte Berlin des Jahres 1891! Und wie sich herausstellt, in das gleiche Jahr, in dem auch der geniale amerikanische Schriftsteller Mark Twain für einige Monate in der Kaiserstadt wohnt. Vielleicht kann er den Kindern helfen, zurück ins Heute zu gelangen. Schließlich hat er selbst einen Zeitreiseroman geschrieben. Doch dann passiert etwas schlimmes, und der Weg nach Hause scheint den Kindern versperrt. Müssen sie etwa für immer im 19. Jahrhundert bleiben?

Rowohlt, 2016
aus dem Amerikanischen von
Alexandra Ernst
348 Seiten, Hardcover
ab 11

Die Geschichte hinter der Geschichte

Als ich im Herbst 2015 vor meinem Computer saß, das leere, weiße Word-Blatt anschaute und ganz langsam den ersten Satz verfasste – “Mit einem schweren Müllsack und ein paar leeren Flaschen ging Oliver vorsichtig die Treppe hinunter” – hatte ich Zweifel, ob ich das Chaos in meinem Kopf, das mein Buch noch war, so gut sortieren würde wie Oliver seine leeren Flaschen in die Altglascontainer.

Doch es klappte. Wie habe ich das geschafft? Ich weiß es nicht. Es ist (immer wieder) ein Wunder und ich will eigentlich gar nicht wissen, wie. Protagonist Oliver, 13 Jahre alt, sagt in Federflüstern, “It’s a leap of faith. You have to trust that’ll happen.” Und so sehe ich das auch. Ich muss einfach daran glauben.

Irgendwann nimmt das Buch dann Gestalt an, irgendwann sehe ich die Geschichte, die Figuren, die Metaebene, irgendwann bleibe ich nachts wach und löse das Problem, das mir seit Tagen den Schlaf raubt, irgendwann wird Stück für Stück das Puzzle zusammengesetzt, alle Fragen werden beantwortet, alle Handlungsstränge kommen zusammen, die Bösen werden kaltgestellt und die Guten kommen endlich wieder nach Hause, müde, hungrig, erkältet, mit der einen oder anderen gebrochenen Rippe, aber irgendwie doch klüger. Und ich darf wieder durchschlafen.

Doch erst dann beginnt die Knochenarbeit: Während dieser Reise habe ich mich restlos in die eine oder andere Romanfigur verliebt und muss mich jetzt von ihm (oder auch ihr) abnabeln. Denn wie kann ich ein neues Buch mit neuen Figuren anfangen, wenn ich noch an den alten hänge? Mich von meinen Figuren abzunabeln ist eine Quälerei. Ich tue es trotzdem gern, denn wenn ich mich in eine meiner Figuren verliebe, dann stehen die Chancen gut, dass meine Leser es auch tun. Was will eine Autorin mehr?

Das erste Mal passierte es mir mit Max Minsky, ca. 2001, als ich “Prinz William, Maximilian Minsky und ich” schrieb. Ein toller Typ war er. Rebellisch. Gewitzt. Und sooo süß – auch wenn er sich wie ein Vampir schminkte. Leider fand meine Protagonistin, Nelly Sue Edelmeister, 13, Max gar nicht so toll. Sie hatte nämlich nur Augen für den 15-jährigen Prince William (das Buch spielt 1997, kurz nach dem Unfalltod von Prinzessin Diana). Ich musste echt harte Arbeit leisten, damit Nelly endlich kapierte, dass Max für sie als Gesprächspartner und vielleicht auch als Boyfriend in Frage kommen könnte. So verliebte ich mich in ihn, damit Nelly das auch tut. Es war “a leap of faith”, und es hat funktioniert!

So war es auch mit Mick Maier von “Mauerblümchen”, meinem Wenderoman. Ich konnte mich seinem Charme einfach nicht entziehen, obwohl er mit seinen 1,96 viel zu groß war für mich (1,64). Außerdem hat er stark berlinert, was mich leicht genervt hat, und war, wenn ich ganz ehrlich bin, einfach zu gut drauf. Außerdem kam er aus dem Osten, und ich bin ja bekanntlich ein Westmädchen. Trotzdem dachte ich, er wäre ein toller Freund für Molly Lenzfeld aus New York City, mein Mauerblümchen, das etwas unsicher und ein bisschen depri wirkte und eine Mauer um sich gebaut hatte. Dabei war Molly fast so groß wie Mick, nämlich 1,86 und mit Schuhgröße 45. So verliebte ich mich in Mick und – wham boom! – genau zwei Wochen nach Mauerfall, drei Stunden nach der ersten Begegnung mit Mick, traf es Molly mitten ins Herz. Hach! So muss es sein.

Und dann gibt’s auch noch Finn Nordstrom von “Everlasting.” Ich träume immer noch von ihm. Was für ein irrer Typ: der “Mann von Morgen” aus dem Jahr 2264, intelligent, sensibel, gut aussehend. Leider hatte er keine Ahnung von der Liebe, auch wenn er manchmal ein ganz leises Kribbeln im Bauch ahnte. Er wusste aber nicht, wo es herkam oder was es zu bedeuten hatte. Finn war also für mich eine große Herausforderung. Man kann sich kaum vorstellen, was ich ihm über die Liebe beibringen musste – alles vom Küssen bis zum Kamasutra. Ich war ganz traurig, als er mich dann für Eliana verließ. Aber aus heutiger Sicht, denke ich, war es gut so.

Denn nun fühlte ich mich ganz frei, mich in Mark Twain zu verlieben! Jawohl. Samuel Langhorne Clemens himself. Er spielt eine tragende Rolle in meinem Zeitreiseroman Federflüstern, ist quasi die Mentorfigur für meine Kinderbande, die ihn in Berlin im winterkalten Dezember 1891 kennenlernt.

Sechs Monate lang – 1891/1892, vor genau 125 Jahren – lebte Twain (tatsächlich!) in Berlin-Schöneberg in der Körnerstraße mit Frau Olivia und Töchtern. Mich hat es gar nicht gestört, dass er verheiratet war, denn in meinem Buch habe ich seinen Weiberclan einfach nach Leipzig verbannt, um ein Konzert des Thomanerchors zu besuchen und ein bisschen Weihnachtsshopping zu machen. So durfte ich drei Tage mit Twain allein in seiner Wohnung verbringen. Und ich kann mit Überzeugung sagen: das waren tolle, aufregende, once-in-a-lifetime-Tage. So einen witzigen, lebensklugen, charmanten Schriftsteller trifft man nicht jeden Tag. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Und meine jungen Protagonisten auch nicht.

Twain war zu seiner Zeit eine absolute Ausnahmeerscheinung, also nicht nur der Schöpfer der größten amerikanischen Kinderbuchhelden überhaupt, nämlich Tom Sawyer und Huckleberry Finn, sondern auch Mississippi-Lotse, Erfinder, Reisebuchschriftsteller, Science-Fiction-Autor, Deutschkenner (“The Awful German Language”), Entertainer und erster amerikanischer Superstar (“The doors open at 7, the trouble begins at 8” pflegte er über seine Auftritte zu sagen).

Ich traue Mark Twain absolut zu, dass er sich als Charakter in einer irrwitzigen Lage so verhalten haben könnte, wie ich es ihm in meinem Roman angedichtet habe. Deshalb liebe ich ihn. Und meine Leser, hoffe ich, tun es gleichermaßen.